Zeitzeugin in der St.-Franziskus-Schule zu Besuch
Eine Geschichtsstunde der besonderen Art erlebten jetzt die Schülerinnen und Schüler der Klassen 10 der St.-Franziskus-Realschule und die Geschichtsschülerinnen und – schüler der Jahrgangsstufe EF des St.-Franziskus-Gymnasiums, hatte die Fachschaft Geschichte doch mit der 86jährigen Frau Dr. Michaela Vidláková aus Prag eine Zeitzeugin eingeladen, deren Schicksal und Persönlichkeit einen tiefen Eindruck bei ihren jungen Zuhörerinnen und Zuhörern hinterließen.
An den Anfang ihres Vortrags stellte Frau Vidláková ein Zitat des deutschen evangelischen Theologen und Bürgerrechtlers Friedrich Schorlemmer, das man sicherlich auch als Antrieb ihrer eigenen Erinnerungsarbeit verstehen kann: "Erinnern kann nicht ungeschehen machen, aber die Wiederholungswahrscheinlichkeit verringern.“ Im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern machte sie im Anschluss daran deutlich, wie wichtig für sie die Erinnerung an die Verbrechen und an die Opfer der Nationalsozialisten ist, fügte aber auch abschließend noch hinzu: „Man muss dafür auch etwas tun. Ihr tragt keine Schuld. Ihr tragt jetzt aber die Verantwortung für die Zukunft.“
Michaela Vidláková wurde als Michaela Lauscher 1936 in Prag in eine tschechisch-jüdische Familie hineingeboren. Nach der Besetzung Prags durch die deutsche Wehrmacht im März 1939 verlor der Vater seine Stelle als technischer Direktor einer Pelzfabrik. Er kam als Arbeiter in einer Holzwerkstatt unter. Die Mutter unterrichtete an der Jüdischen Schule in Prag bis zu deren Schließung im Sommer 1942. Im Dezember 1942 erhielt die Familie die Aufforderung zur Deportation. Sie wurde in das KZ Theresienstadt (das Ghetto, Sammel- und Durchgangslager in der ehemaligen österreichischen Garnisons- und Festungsstadt Theresienstadt/Terezín ca. 60 km nordwestlich von Prag) verschleppt. Die Großeltern von Michaela waren bereits dorthin deportiert worden und von da aus weiter in die Vernichtungslager Auschwitz und Treblinka, wo sie ermordet wurden, auch ein Bruder von Frau Vidlákovás Vater wurde in Auschwitz ermordet.
Das Schicksal von Michaela Vidláková und von ihren Eltern macht deutlich, welche kleinen, nahezu banal anmutenden Voraussetzungen bzw. Zufälle manchmal darüber entscheiden konnten, dass man im nationalsozialistischen Vernichtungssystem wider alles Erwarten überlebte. So hatte der Vater seiner Tochter zum fünften Geburtstag noch ein Spielzeug geschenkt, einen kleinen Hund mit beweglichen Gliedmaßen, ihr Lieblingsspielzeug, hatte ihr „Vati“ das doch selbst und nur für sie angefertigt. Dieses Holzspielzeug nahm sie mit nach Theresienstadt und so konnte ihr Vater es dort vorweisen als Beweis für seine handwerklichen Fähigkeiten, als Zimmermannsleute für Tätigkeiten im Konzentrationslager gesucht wurden. So wurden er und seine Familie dann zunächst einmal vor dem direkten Weitertransport nach Auschwitz bewahrt. Als dann im Herbst 1944 die Massendeportationen nach Auschwitz begannen, stand dann doch der Name des Vaters auf der Liste. Seine Frau konnte er überzeugen, dass sie ihn nicht freiwillig mit der Tochter begleiten sollte, die Lage schien für ihn aussichtslos. Diesmal bestand der rettende Zufall in einem Unwetter kurz vor der geplanten Deportation, durch das eine Baracke zerstört wurde, für deren Reparatur man wiederum Handwerker benötigte. Frau Vidlákovás Vater meldete sich, blieb in Theresienstadt und überlebte, zusammen mit seiner Frau und Tochter.
Immer wieder war es die Perspektive des Kindes, verbunden mit der Reflexion eines Erwachsenen, die den anwesenden Jugendlichen um einiges nachvollziehbarer und berührender die Bedeutung der nationalsozialistischen Verbrechen vor Augen führte, als es Quellentexte aus dem Geschichtsbuch wahrscheinlich schaffen können: Was bedeutet es, wenn plötzlich niemand der Freundinnen und Freunde mehr mit einem sprechen, geschweige denn spielen will? Was löst ein Foto der ehemaligen Schulklasse in einem aus, von der außer einem selbst und der Lehrerin niemand die Vernichtung durch die Nationalsozialisten überlebt hat? Die Gesichter der Ermordeten hat Frau Vidláková auf einem zweiten Bild unkenntlich gemacht, was den Verlust äußerst eindrücklich „vor Augen führt“. Was bedeutet es für ein Kind, das wegen einer schweren Krankheit, ausgelöst durch Mangelernährung und kaum vorhandene Hygiene im Lager, ein Jahr im Lagerkrankenhaus verbringen muss, ohne direkten Kontakt zu den Eltern? Ein Pfeifsignal hatten die Eltern mit dem Mädchen verabredet, zu Beginn dafür gedacht, dass man sich im eventuellen Chaos der Deportation wiederfinden kann. Das Signal unter dem Krankenhauszimmer zu hören, bedeutete jetzt immer unendliche Freude. Und Briefe konnte das Kind schreiben, die die fürsorglichen Krankenschwestern vor der Weitergabe erst bügelten, um die Weitergabe von ansteckenden Keimen zu verhindern. Was löst es auch aus in einem Kind, wenn es nach dem Krieg erfährt, dass der kleine deutsche Junge aus Berlin, mit dem es das Krankenzimmer geteilt und von dem es Deutsch gelernt hat, in Auschwitz ermordet wurde? Ein Junge, den es sich, da selbst Einzelkind, zum Bruder gewünscht hatte.
Frau Vidlákovás Eltern engagierten sich bis zu ihrem Tod für die Erinnerung an den Holocaust und konnten ihre Tochter überzeugen, sich ebenfalls für diese Erinnerungsarbeit einzusetzen, eine Aufgabe, die ihr auch im hohen Alter noch wichtig ist, wie ihr prall gefüllter Terminkalender zeigt. So besucht sie immer wieder Schulen in Tschechien und Deutschland, sie steht in der Gedenkstätte Theresienstadt für Gespräche mit Besuchergruppen zur Verfügung und leistet sicherlich noch vieles mehr: „Nichts tun ist langweilig.“
Bald wird es keine Zeugen aus der Zeit des Nationalsozialismus mehr geben, umso wichtiger, dass wir Frau Vidláková sehen und ihr zuhören konnten. Wir sind dafür sehr dankbar.
Die sicherlich bei allen Zuhörenden noch lange nachwirkende Begegnung kam zustande durch Vermittlung und durch die organisatorische Vorbereitung der Gesellschaft für Christlich- Jüdische Zusammenarbeit Siegerland e. V., deren jüdischer Vorsitzender Allon Sander bei den Vorträgen ebenfalls anwesend war. Finanziell unterstützt wurde die Veranstaltung außerdem auch durch einen Beitrag des Fördervereins der St.-Franziskus-Schule.